Subkultur-Safari: “MOON” – queere Performancekunst von Mischa Badasyan

MOON Hauptgrafik - Design von Natalia Sookias
Ein totaler Performancekunst-Noob (ich) besucht eine undergroundige Performance-Ausstellung. Nicht verstehen ist extrem trippig!

Raus aus der Comfort Zone

Die meisten Menschen haben gewisse Gewohnheiten, was die Freizeitgestaltung angeht. Ich auch. Anders als Kino, Kneipe und Konzerte gehören queere Performancekunst-Ausstellungen so gar nicht zu meinem Standardrepertoire. Zum Glück habe ich meine Routinen mal durchbrochen!

Auf verschlungenen Wegen (für sowas sind soziale Medien ja echt super) verschlug es mich letzten Donnerstag auf die Eröffnung von “MOON”, einer Werkschau des russischen Performancekünstlers Mischa Badasyan. In der Berliner Plateau Gallery, die sich im siebten und achten Stock eines Hochhauses mitten im Gewebegebiet südlich des Tempelhofer Feldes befindet, präsentiert Badassyan seine erste Soloausstellung. Im Vorfeld hatte ich gelesen, dass sich “MOON” um den Zusammenhang von astrologischen Phänomenen und dem Menstruationszyklus dreht. Iiih! Fast wäre ich nicht hingegangen. Zum Glück war ich (gerade so!) open minded genug, denn meine vagen Befürchtungen, die sich um Bottiche mit Menstruationsblut und astrologisch-esoterisches Dummgelaber drehten, wurden nicht bestätigt. Im Gegenteil: Ich hatte den trippigsten und intensivsten Abend seit langer Zeit (und das komplett nüchtern).

Die Faszination des Unverständlichen

“MOON” füllt eine komplette Etage der Plateau Gallery. In zwölf Stationen (vermutlich angelehnt an die Zahl der Monate) entspinnt sich ein eigenweltlicher, teils irritierender Kosmos aus Performance, Skulptur und Mode. Ich will ehrlich sein: Ich habe größtenteils nicht wirklich verstanden, worum es geht. Die Zettel, die erklärend durch die Ausstellung führen, habe ich aber auch ignoriert, denn ich hatte keine Lust, diese ermüdend eindimensionale “Was-wollte-uns-der-Künstler-damit-sagen”-Perspektive einzunehmen. Stattdessen bin ich einfach ein paar Stunden von einer Station zur nächsten gewandert, habe zugeschaut und mich an meinem ziemlich kompletten Nichtverstehen erfreut: Menschen, die über Stunden mit ihren Mündern einen hölzernen Bogen halten (“Crescent”). Ein Mann in einem spinnenartigen Frauenkleid mit neun überlangen Armen, an deren Enden sich Tänzerinnen winden (“Pluto”). Ein Haufen Samenkörner auf dem Boden, der von einem stoischen, halbnackten Mann einer nach dem anderen geknackt und gegessen wird (“Forbidden Fruit”). Eine menschliche Skulptur namens “Supernova” in einem extrem flashigen Kleid, umgeben von einer Sphäre aus Scherben.

Besonders beeindruckt hat mich “Stone”: Diese minimalistische Aufführung besteht aus einer Tänzerin und einem Glas voller kleiner Perlen. Bestimmt eine Stunde lang habe ich dagesessen und zugesehen, was ein kreativer und bewegungsbegabter Mensch alles mit einem Glas voller Perlen anfangen und ausdrücken kann. Ich habe mich dabei nicht eine Sekunde gelangweilt.

Alle Gefühle gleichzeitig

Noch mehr unter die Haut ging mir die Station “Lusin”. Hinter einem schwarzen Vorhang, in einem sehr dunklen, gekachelten Raum, räkelt sich eine nackte Frau und singt, stöhnt, wimmert, haucht, schreit permanent das Wort “Lusin”. (Das ist übrigens, wenn Google nicht irrt, indonesisch für “ein Dutzend”. Aber das wusste ich natürlich nicht. Jetzt hab ich doch ein Stückchen Unwissen zerstört – damn it.) Es war ein extrem intensives und ambivalentes Erlebnis, durch den Vorhang in diesen ziemlich kleinen Raum zu treten und die Nähe in der Dunkelheit zu ertragen. Eine ziemlich wilde Mischung aus Neugierde, Voyeurismus, Scham, Angst (Was, wenn die plötzlich anfängt, mit mir zu interagieren?) und Faszination war das. Irgendwann – mittlerweile war noch ein weiterer Zuschauer im Raum – kam die Dame ultralangsam, immer noch singend, schreien, raunend, über den gefließten Boden auf mich zugekrochen. Man kann tatsächlich gleichzeitig sexuell erregt und von Entsetzen gelähmt sein. Wusste ich vorher auch nicht. Leider/zum Glück hatte der andere Mensch sein Mobiltelefon nicht auf lautlos gestellt und bekam in dem Moment eine SMS, und der Bann war gebrochen. Ich bin dann wieder raus.

Später gab es dann noch eine Art Aftershowparty/Klangkunst-Performance. Ich hätte ganz gerne getanzt, aber die einzigen, die sich auf die arythmischen Sondscapes und Noise-Orgien des DJs bewegen konnten, waren hartgesottene Performancekünstler. Die könnten auch einen Groove auf die Geräusche in einem Schlachthaus finden, echt jetzt.

Jedenfalls kann ich euch anderen Performance-Noobs da draußen nur empfehlen: Macht sowas mal! Es ist ein komplett anderes Ding, sowas auf 3sat oder Arte wegzuzappen (oder sogar anzuschauen) oder eben selbst dabei zu sein. Live, vor Ort und in Echtzeit fühlt sich nicht nur das Konsumieren von Kunst anders an, es wird ja zwangsläufig auch zu einer teilnehmenden Beobachtung, denn deine Anwesenheit hat definitiv Einfluss auf die Performer.

Wie man Akademiker froh macht

Ungefähr das habe ich übrigens noch am gleichen Abend einem kleinen Rudel Theaterwissenschaftler erzählt, mit denen ich zufällig (ja, wirklich!) verabredet war. Und kaum hatte ich diesen Gedankengang geäußert, entstand ein gackernder, hysterischer Tumult unter ihnen. “Jetzt hab ich was sehr Dummes gesagt”, dachte ich. Doch weit gefehlt, die Erregung war vielmehr darauf zurückzuführen, dass ich in primitiven Worten ein zentrales theaterwissenschaftliches Konzept beschrieben hatte. “Leibliche Ko-Präsenz!” jubelten sie, und “Autopoietische Feedback-Schleife!” Ich war in meiner theatertheoretischen Unbeflecktheit quasi der lebendige Beweis dafür, dass der Elfenbeinturm eine Verbindung zur echten Welt hat.  Ist schon lustig, zu sehen, wie sehr sich Akademiker freuen, wenn sie mal spüren, dass es nicht nur theoretischer Bullshit ist, mit dem sie sich beschäftigen. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, diese Menschen froh gemacht zu haben.

Und ich habe mir vorgenommen: Ich will mir öfter Sachen reinziehen, die ich nicht verstehe. Das ist, glaube ich, sehr gut für die Inspiration, und es mach auf eine kindliche Art und Weise irre Spaß.

Für die Verstehenwoller unter euch: Hier gibt’s alles Wissenswerte zur Theorie der “Leiblichen Ko-Präsenz” und zur “Autopoiesis”. Danke an Marie für die Links! Ich werde aber den Teufel tun und das lesen.

“MOON” wird noch bis zum 18. Juli in der Plateau Gallery gezeigt. Und ich empfehle Noobs wie Theaternerds, sich das mal anzusehen. Kostet übrigens auch nix.

Fotos von “MOON”

Website von Mischa Badasyan

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Daniel

Daniel

The Other Guy at Weltenschummler
Schreiberling mit halbwegs kontrollierter Tastatur-Tourette. Concerned but powerless. Musiker, Teilzeithippie und Linksträger. Kann sich nicht an das Ende von “Fear and Loathing in Las Vegas” erinnern. Ehemaliger Copilot von Weltenschummler.
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