Ein Loblied auf die Imperfektion

Fred Kahl - MaX Fredroom 3D Printer Hangover - CC BY-NC-SA 2.0

Image Credit: Fred Kahl (Flickr / CC BY-NC-SA 2.0)

Perfektion ist öde. Es sind Makel und Imperfektionen, die den Blick gefangennehmen. Warum fällt es uns dann nach wie vor so schwer, unsere Schwächen offen zu zeigen?

Fehler, Glitches und Abweichungen: das Salz in der Suppe

Als ich heute morgen meinen RSS-Reader aufgerufen habe, hat mich sofort ein Bild angesprochen, auf dem eine fezhlerhafte 3D-Skulptur zu sehen war. Der zugehörige Artikel handelt von Dr. Who und war für mich nicht sonderlich interessant, weil ich diese Srie Serie nicht schaue. Aber die Bilder von misslungenen 3D-Druckerzeugnissen haben mich gefesselt – und zum Nachdenken gebracht. Was ist es, das mich (und andere) an Fehlern und Imperfektionen so inspiriert? Eigentlich sollten wir Menschen doch auf Perfektion getrimmt sein, was Ästhetik angeht. Aber je länger ich darüber nachgedacht habe, desto mehr ist mir bewusst geworden, dass sich die Sehnsucht nach Imperfektion bei mir wie ein roter Faden durch den persönlichen Geschmack zieht.

Menschen, die zu schön und dann auch noch gut angezogen sind, lassen meinen Blick abgleiten. Glattpolierte Popmusik langweilt mich und macht mich ungehalten. Musikinstrumente, die irgendwie scheppern, klirren oder leicht verstimmt sind, ziehen mich mehr an als High-end-Meisternstrumente Meisterinstrumente, die perfekt intonieren und nach Sahnebesée klingen.

Totale Langeweile im Zeitalter der Perfektion

Woher kommt das? Und bin ich alleine damit? Wohl kaum. Ich vermute, dass wir – anders als tausende Generationen unserer Vorfahren, uin einer Welt Leben, in der Perfektion nach und nach zur Norm geworden ist. Industriell gefertigete Produkte sind auch dann perfekt rund und reinfarbig, wenn sie spottbillig sind. Unsere Architektur ist glatt und gerade. Kosmetikprodukte und makellose Kleidung sind für jeden erschwinglich, der nict nicht gerade auf der Straße lebt. Seit dem 20. Jahrhundert sind wir von mehr und mehr alltäglicher Glattheit und Präzision umgeben. Für einen mittelalterlichen Bauern mag die perfekte Symmetrie eines Altars eine beeindruckende Erfahrung gewesen sein, ebenso wie ein perfekt naturalistisches Ölgemälde. Menschen von heute dagegen denken meist nur: “Ein Altar halt …” bzw. “Ein Bild halt – wo ist die Message?” Menschen gewöhnen sich an alles, auch an Perfektion. Und nur, was von der Norm abweicht, fängt den Blick ein und ist interessant.

Fake-Charisma zum Kaufen

Dieser Mechanismus ist natürlich auch der Industrie nicht entgangen. Viele Produkte und Medien werden mit künstlicher “Authentizität” und “Individualitat” aufgeladen, um ihnen eine Aura zu verschaffen. (Nein, ich werde jetzt nicht von Walter Benjamin anfangen. Wir sind ja hier nicht in der Uni.) Used Look bei Kleidung, gevintagte Gitarren, künstliche Grittyness durch Instagram-Filter, Out-of-Bed Haargel – you name it. Selbst Marvael-Blockbuster können nicht mehr auf eine dunkle, gebrochene Seite an ihren Helden verzichten – nicht einmal Superman, eigentlih eigentlich der perfekte Saubermann schlechthin, konnte diesem Schicksal entgehen.

Aber diese kalkulierten Simulationen von iImperfektion sind halt was anderes als echte Makel. Irgendwie ist es traurig, dass Menschen extra Geld ausgeben, um von der Industrie als charismatisch definierte Imperfektionen zu bekommen, die dann ihre leere Perfektion verdecken. Beiom Musikmachen ist es das selbe: Die eEinzelistrumente werden zigfach digital aufgenommen, bis der Produzent in stundenlanger Arbeit den perfekten Take zusammengestückelt hat. Und dann kommen dutzendweise Plugins zum Einsatz, die alte Röhrenverstärker, Bandmaschinen und schepprige Hallräume simulieren, damit die Hohlheit und der mangelnde Mmusikalische Ausddruck von einer Schmierschicht aus Fake-Retro-Charisma überdeckt wird. Das ist gleichzeitig dekadent und hohl.

Mehr Mut zur Imperfektion

Wäre es nicht ein konsequenterer, mutigerer Schritt, wenn wir uns einfach hinstellen und sagen: “Das hier ist mein Makel. Er gehört zu mir. uUnd ich schäme mich nicht. Ihr könnt aufhören, eure Imperfektionen zu verstecken. Ich mag euch auch so.”

Aber da habe ich oller Romantiker natürlich meine Rechnung ohne den Kapitalismus gemacht. Solange wir unter dem Zwang der Konkurrenz und Selbstoptimierung stehen, wird es zu so einer Öffnung vermutlich nicht kommen können. Schade. Aber lasst mich euch hier, wo wir unter uns sind, ins Ohr flüstern:

Ich mag euch in all eurer wunderschönen, einzigartigen Imperfektion. Aber sagt’s keinm keinem weiter.

Daniel

Daniel

The Other Guy at Weltenschummler
Schreiberling mit halbwegs kontrollierter Tastatur-Tourette. Concerned but powerless. Musiker, Teilzeithippie und Linksträger. Kann sich nicht an das Ende von “Fear and Loathing in Las Vegas” erinnern. Ehemaliger Copilot von Weltenschummler.
Daniel