“Women Who Eat on Tubes” – Ein tragisches Missverständnis?

Women Who Eat on Tubes – Weltenschummler – CC BY-SA 2.0

Women Who Eat on Tubes – Weltenschummler – CC BY-SA 2.0

Menschen fotografieren andere Menschen beim Essen in der U-Bahn und posten die Bilder online. Das regt andere Menschen sehr auf. Was mich wiederum verblüfft. Wundert Euch das?

Shaming oder Gaming?

Während meiner Prä-Frühstücks-Guten-Morgen-Zigarette las ich heute die launige, etwas wohlfeile taz-Kolumne “Kampfplatz mit Brüsten”. Darin geht es darum, dass Frauen auf die öffentliche Meinung scheißen sollten, da sie es eh nicht allen Recht machen können. (Unterschreibe ich sofort, übrigens auch für Männer.) Autorin Margarete Stokowski zählt als eines von vielen Beispielen für öffentliche Normierungsversuche weiblichen Verhaltens die Facebook-Gruppe “Women Who Eat on Tubes” auf. Sie schreibt: “In der Öffentlichkeit essen sollt ihr sowieso nicht, jedenfalls nicht in der U-Bahn, sonst posten fremde Menschen von euch Fotos in der Facebookgruppe „Women who eat on tubes“ und 32.600 Leute lachen euch aus.” Von der Gruppe hatte ich noch nichts gehört und schaute sie mir an. (Dafür muss man übrigens beitreten und auf die Bestätigung eines Admins warten, hat aber nur zwei Minuten gedauert.)

Was ich dort fand, wird Euch erstaunen! Nein, Scherz. In der Tat fand ich dort genau das Versprochene: massig Fotos von Frauen, die im ÖPNV Nahrungsmittel zu sich nehmen. Was ich auf Anhieb nicht fand, war “Shaming”. Die Fotos werden eher wie nerdige Liebhaberstücke gehandelt. In den Captions halten die Fotografen akribisch Zeit, verzehrtes Nahrungsmittel und Bahnstrecke fest. Regelmäßig erinnern Posts in der Gruppe die Mitglieder daran, sich doch bitte an das “T-F-L”-Schema (Time - Food - Line) zu halten – Ordnung muss sein!

Ich will auch!

Wenn ich ehrlich bin, üben die Fotos auf mich eine magische Anziehungskraft aus. Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass hier Menschen vorgeführt werden. Im Gegenteil: Indem der völlig banale Akt des Essens in einer alltäglichen Situation in den Fokus gerückt wird, entstehen Bilder, die die Schönheit des selbstvergessenen Moments festhalten. Ich werd jetzt nicht anfangen, das à la “American Beaty”-Plastiktüte überpathetisch aufzuladen, aber ich konnte nicht aufhören, mich durch die unzähligen Bilder zu scrollen und ein warmes Gefühl von unverfälschter Menschlichkeit zu genießen.

Viele der beitragenden “Bürgerfotografen” freuen sich wie kleine Kinder über ihre ersten gelungenen Fotos. Mein Eindruck: Die Mitgliedschaft in dieser Gruppe hat auch ganz viel mit Langeweile und kreativer Gamification des alltäglichen Bahnfahrens zu tun. Wer schon mal auf einer langen Autofahrt “Horse” oder “Ich sehe was, was du nicht siehst” gespielt hat, kennt das Prinzip: Jede noch so banale Aufgabe verwandelt Wartezeit in Action. Ich habe sofort Lust bekommen, selbst aktiv in den “WWEoT”-Kreis  einzutreten und meine zermürbend öden Bahnfahrten von nun an als Fotosafaris wahrzunehmen.

… aach, vergiss es …

Eine kleine Recherche zum Thema hat mich allerdings von dieser Idee wieder Abstand nehmen lassen. Im April diesen Jahres hat das Thema, feministisch kontextualisiert, einen Empörungsschub in den britischen Medien ausgelöst. (Die Gruppe kommt aus London, und die meisten Beiträge stammen aus der dortigen Bahn.) Der Guardian berichtete indigniert über das Phänomen, und in rechtschaffener Empörung veranstalteten britische Feministinnen ein medial begleitetes U-Bahn-Piknick, über das auch der Tagesspiegel berichtete.

In einem Interview mit dem Guardian versucht sich Gruppengründer Tony Burke zu rechtfertigen. Weird ist er schon drauf, aber er hat durchaus thematische Überschneidungen mit meinerr ersten Wahrnehmung der Fotos:

“[…] according to founder Tony Burke, it’s not stranger-shaming; it’s the London equivalent of wildlife photography. “At its truest form,” he says, “it should cherish its subjects in the way a wildlife photographer cherishes a kingfisher in a river.” Erm, what? Is Burke seriously comparing women to wildlife, and saying every commuter should become a David Attenborough, examining the ‘Female Creature’ as she leaves her habitat with Pret-a-Manger-style-prey in hand? “It’s art,” explains the 39-year-old film director, who is well-spoken and comes across as a typical arty type living in north-west London. “You’re capturing a moment that will never be repeated. It’s ridiculous. It’s banal; it’s the most normal thing in the world: eating. We transport it into high art.””

Man muss den Gruppengründern und Admins auch zubilligen, dass sie sich die größte Mühe geben, verletzende und frauenfeindliche Kommentare in der Gruppe zu ahnden. Beispiel: WWEOT is observational not judgemental. Delete negative ginger comments or be deleted. 15 minutes. (Kommentar eines Admins unter einem Foto mit einer essenden rotharigen Frau.)

Bürgerwehr 2.0

Auf der anderen Seite gibt es eine Menge Mitglieder, die das “Shaming” scheinbar dann doch als eigentlichen Sinn der Gruppe wahrnehmen. “Busted!” oder “Gotcha!”-Captions und Kommentare kommen ziemlich häufig vor und werden scheinbar auch von den Admins toleriert. Diese “Erwischt!”-Mentalität betont die Tatsache, das viele Spießer da draußen es nicht okay finden, in der Bahn zu essen.

[Exkurs: Das ist eine der vielen Gelegenheiten, die mich daran erinnern, dass ich mir dringend einen großen Stapel Visitenkarten, auf denen in Impact “HEUL DOCH!”  draufsteht, zulegen muss. Die kann ich dann an all die kleinlichen Zwangsneurotiker verteilen, deren Unterlippe zu beben beginnt, wenn man mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig fährt, auf einem Freiluft-Bahnsteig eine Zigarette raucht oder – Gott behüte! – in die Bahn einsteigt, bevor es auch der letzte Fußlahme endlich aus der Tür geschafft hat.]

Diese “investigative” Komponente gibt der Gruppe eine ungute Schlagseite, die an Bürgerwehren denken lässt – ähnlich dem (mittlerweile gelöschten) schwedisch-feministischen Fotoblog “Macho i Kollektivtrafiken” (“Machos in öffentlichen Verkehrsmitteln”), auf dem Bilder von breitbeinig sitzenden, angeblich dominant zu viel Raum beanspruchenden Männern in Bahnen gepostet wurden (hier ein Vice-Interview mit der Günderin).

Können wir nicht alle ein bisschen netter sein?

Seufz. Irgendwie typisch Menschheit. Ich glaube dem Gründer, dass er nichts Böses mit seiner (zugegeben lustigen und faszinierenden, aber auch sehr weirden) Idee wollte. Aber ich glaube den betroffenen Frauen – z.B. der empörten Journalistin Sopie Wilkinson – auch, dass insbesondere die Kommentare unter den Bildern sie verletzen. Ich würde gerne in einer Welt leben, in der  so ein Kunstprojekt nicht direkt eine negative Schlagseite bekäme. Tue ich aber nicht. Das ist sehr schade. Dass Gründer Burke sich ausgerechnet für Frauen in “unschmeichelhaften” Situationen entschieden hat, mag Zufall sein – in unserer Gesellschaft ist das aber natürlich ein Reizthema. Es ist gut, dass es eine öffentliche Debatte darüber gibt. Persönlich wäre ich nie auf die Idee gekommen, die Bilder mit Schönheitsstandards (essende Frauen = Völlerei und Maßlosigkeit = Fatties … WTF??) oder Shaming in Verbindung zu bringen, aber auf den zweiten Denk ist das in unserer oberflächlichen Gesellschaft auch kein Wunder. Und so sehr ich manchmal die Augen verdrehen möchte angesichts der teils reflexartig wirkenden feministischen Empörungsfreude, so sehr verstehe ich auch, dass Frauen derzeit etwas dünnhäutig sind, was ihre Wahrnehmung in der öffentlichen Kommunikation angeht.

Eins ist klar: Ausschlaggebend für moralisches Verhalten ist nicht die zugrundeliegende Absicht des Handelnden, sondern das subjektive Erleben der Betroffenen. Von daher kann ich mich auf den Kopf stellen und mit den Arschbacken wackeln, ich kann nicht reinen Gewissens Berlinerinnen bei ihrem sebstvergessenen U-Bahn-Snack fotografieren, so wenig ich ihnen damit auch was Böses wollen würde.

Vielleicht finde ich ja ein unverfänglicheres Fotothema, mit dem ich meine U-Bahn-Fahrten kurzweiliger gestalten kann. “Elderly Men Tying Their Shoelaces”? Macht jemand mit? Alleine ist das glaub ich doof …

Daniel

Daniel

The Other Guy at Weltenschummler
Schreiberling mit halbwegs kontrollierter Tastatur-Tourette. Concerned but powerless. Musiker, Teilzeithippie und Linksträger. Kann sich nicht an das Ende von “Fear and Loathing in Las Vegas” erinnern. Ehemaliger Copilot von Weltenschummler.
Daniel