Gonzo-Journalismus

Gonzo-Journalismus ist ein journalistischer Stil, der Elemente der Literatur und des Journalismus miteinander verbindet. Konstituierende Merkmale sind unter anderem die Einbindung des Autors in die Berichterstattung, Erzählung aus der Ich-Perspektive und ein dadurch bewusst in Kauf genommener Mangel an Objektivität und Distanz. Sogar fiktive und vollkommen frei erfundene Elemente können Bestandteil eines gonzojournalistischen Textes sein.

Ursprünge des Gonzo-Journalismus

Begründer des Gonzo-Journalismus: Hunter S. Thompson auf der Miami Book Fair International, 1988

Begründer des Gonzo-Journalismus: Hunter S. Thompson auf der Miami Book Fair International, 1988 // Image Credit: MDCarchives (Wikimedia Commons/CC BY-SA 3.0)

Als Begründer des Gonzo-Journalismus gilt der US-amerikanische Journalist Hunter S. Thompson (* 18.07.1937; † 20.02.2005). Sein Artikel “The Kentucky Derby Is Decadent and Depraved” (“Das Kentucky Derby ist dekadent und degeneriert”) wird als genreprägend angesehen und erschien 1970 im Magazin “Scanlan’s Monthly“. In seinem Beitrag schilderte Thompson satirisch die seiner Ansicht nach vollkommen verdorbene Oberschicht, die alljährlich beim Kentucky Derby zusammentrifft. Ursprünglich sollte er als Sportreporter von dem Event berichten, bekam aber keine Akkreditierung für das Rennen und entschied sich stattdessen dazu, Notizen über das Umfeld der Veranstaltung zu machen. Da er außerdem unter großen Termindruck stand, riss er einfach die Seiten aus seinem Notizbuch, numerierte diese und schickte sie an seinen Redakteur, der den Text nahezu unverändert übernahm. Obwohl der Artikel damals kein großes Aufsehen erregte, wurde er im Nachhinein als der Beginn des Gonzo-Journalismus markiert.

Ethymologie des Gonzo-Journalismus-Begriffs

Der Terminus “gonzo” geht auf Hunter S. Thompsons Kollegen Bill Cardoso zurück, der laut Thompson damals als Reaktion auf “The Kentucky Derby Is Decadent and Depraved” äußerte: “Forget all this shit you’ve been writing, this is it; this is pure Gonzo. If this is a start, keep rolling.” Cardoso selbst hingegen meint sich zu erinnern, er hätte gesagt: “I don’t know what the fuck you’re doing, but you’ve changed everything. It’s totally gonzo.

Der genaue Ursprung des Begriffs “gonzo” ist umstritten. Nach Aussagen Cardosos stammt das Wort aus dem irischen Slang in Süd-Boston und bezeichnete denjenigen, der nach einem Saufgelage als letzter in der Lage war, noch zu stehen. Neben vielen anderen Spekulationen zum Wortursprung wird diese allgemein als die schlüssigste angesehen. Heute ist “gonzo” mit der Bedeutung “verrückt” oder “exzentrisch” in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen und wird auch in anderem Kontext benutzt.

Hunter S. Thompson gebrauchte die Bezeichnung “Gonzo-Journalismus” in Zusammenhang mit seiner Arbeit erstmals in seinem Roman “Fear And Loathing In Las Vegas” (1971): “But what was the story? Nobody had bothered to say. So we would have to drum it up on our own. Free Enterprise. The American Dream. Horatio Alger gone mad on drugs in Las Vegas. Do it now: pure Gonzo journalism.

Weitere, eng verwandte und oft synonym gebrauchte Bezeichungen für den Gonzo-Journalismus und seine Abwandlungen sind New Journalism und literarische Publizistik.

Hunter S. Thompson und sein Gonzo-Journalismus

Hunter S. Thompson gründete seinen Schreibstil auf einer Aussage von Schriftsteller William Faulkner: “The best fiction is far more true than any journalism.” Thompson entwickelte daraus ein literarisch-journalistisches Konzept, dem er Zeit seines Lebens treu blieb und das er immer weiter entwickelte. Während die Dinge, über die er schrieb, im Kern wahr waren, nutzte er die Fiktion als pointiert ausschmückendes oder satirisches Beiwerk, um so seinen Standpunkt zu verdeutlichen, Zusammenhänge herauszuarbeiten oder Missstände zu kritisieren.

Als einer der ersten Autoren des Rolling Stone war er dank seines exzessiven Schreibstils bereits in den 1960er Jahren mitverantwortlich für den Erfolg des Magazins, arbeitete später unter anderm für den Boston Globe, das Time Magazine, Vanity Fair, den Playboy und die New York Times und prägte den New Journalism entscheidend. Auf seinen subjektiven Schreibstil und die literarisch-fiktive Komponente des Gonzo-Journalismus angesprochen, antwortete Thompson in einem Interview:

Objective journalism is one of the main reasons American politics has been allowed to be so corrupt for so long. You can’t be objective about Nixon. […] If you consider the great journalists in history, you don’t see too many objective journalists on that list. H. L. Mencken was not objective. Mike Royko, who just died. I. F. Stone was not objective. Mark Twain was not objective. I don’t quite understand this worship of objectivity in journalism. Now, just flat-out lying is different from being subjective.

Die aus obigem Faulkner-Zitat (und Thompsons Berufung darauf) gefolgerte Annahme, dass Gonzo-Journalismus im Grunde kein Journalismus sei, weil er die Tatsachen verdrehe oder sogar frei erfinde, ist also zumindest nicht das, was Hunter S. Thompson unter Gonzo-Journalismus verstand oder propagierte. Subjektivität im Journalismus ist nach Thompson eben nicht gleichzusetzen mit dreisten Lügen. Im Gegenteil: Nach seiner Auffassung ist bedingungslose Subjektivität sogar der einzige Weg, um journalistischer Arbeit Kraft und Authentizität zu verleihen.

Kritik am Gonzo-Journalismus

Die Vermischung von realen, autobiographischen und fiktiven Bestandteilen im Gonzo-Journalismus führt dazu, dass einige Kritiker der Ansicht sind, eine solche Arbeitsweise entspräche nicht dem Pressekodex. Speziell die Punkte “Achtung vor der Wahrheit” und “Sorgfalt” werden hier wahrscheinlich als problematisch angesehen.

De facto gibt es aber, wie bereits oben diskutiert, keinen Konflikt zwischen dem Pressekodex und Gonzo-Journalismus nach Hunter S. Thompson. Auch wenn eine angemessene kritische Distanz zum Thema nach konservativer Ansicht zum guten Ton eines Journalisten gehört, ist diesen eben gerade nicht Bestandteil des Pressekodex. Die Vorurteile gegen den Gonzo-Journalismus rühren meist aus mangelnder Auseinandersetzung mit dem Thema und unglücklichen Interpretationen einiger (vermeintlicher) Nachahmer: Der Schweizer Journalist Tom Kummer fingierte in den 1990er Jahren für das Süddeutsche Zeitung Magazin – ohne Wissen der Redaktion – Interviews mit prominenten Schauspielern wie Charles Bronson, Brad Pitt und Sharon Stone, die er einfach aus fremden Interviews zusammensetzte oder sogar komplett frei erfand. Auch er setzte also Fiktion als Stilmittel ein, mit dem Unterschied, dass bei Kummer (im Gegensatz zu Thompson) diese zum Betrug am Leser (und am Auftraggeber) wurde. Als der Focus im Jahr 2000 den Skandal enthüllte, mussten die beiden Chefredakteure des SZ Magazins ihren Hut nehmen, und Tom Kummers Ruf als Journalist war auf Jahre ruiniert. Obwohl Kummer selbst seinen Stil als “Borderline-Journalismus” deklarierte, litt auch der Gonzo-Journalismus in der Folge unter dem Skandal.

Gonzo-Journalismus heute

Gonzo-Journalismus spielt insbesondere wegen der genannten mutmaßlichen Kollision mit den Statuten des Pressekodex und Negativbeispielen wie denen Tom Kummers kaum eine Rolle in der (klassischen) Medienlandschaft. Wenige praktizieren diesen Stil und noch weniger deklarieren ihn so. Dagegen gibt es viele, die den plakativen Charakter dieser Bezeichung für sich ausnutzen möchten und ihre Inhalte als gonzojournalistisch bezeichnen, aber wenige bzw. keine wirklichen Gonzo-Elemente beinhalten.

Deutsche Journalisten, die sich selbst als Gonzo-Journalisten bezeichnen, sind unter anderem Helge Timmerberg und Dennis Gastmann, der an der ARD ZDF Medienakademie sogar Kurse in Gonzo-Journalismus anbietet.

Auch wenn der Titel “Gonzo-Journalismus” üblicherweise kaum als Kategorie für journalistische Texte benutzt wird, erlebt er seit einigen Jahren eine gewisse Rennaissance. So enthalten zum Beispiel die Beiträge von Richard Gutjahr oder Denis Yücel durchaus ebenfalls gonzojournalistische Elemente wie die Ich-Perspektive oder starke Übertreibung.

Die Kurt-Tucholsky-Gesellschaft vergibt außerdem alle zwei Jahre den Preis für literarische Publizistik, der 2011 an den bereits erwähnten Denis Yücel verliehen wurde (für seine taz-Kolumne “Vuvuzela” zur Fußball-WM 2010 in Südafrika). In der Begründung der Jury heißt es:

In seiner Kolumne »Vuvuzela«, die während der Fußballweltmeisterschaft 2010 erschien, hat Yücel sowohl den deutschen Spießer als auch die deutsche Spießerin auf angenehme Art entlarvt. Dabei übersteigert er bewusst das nationalistische Element, riskiert lustige Wortspiele sowie einen überdeutlichen Stimmungsumschwung nach der deutschen Niederlage (»Gurkentruppe….«) Das wäre vielleicht peinlich, wenn so etwas nicht den Lebensinhalt der Sportseiten im Boulevard bildete. Deniz Yücel hat sich Tucholskys Maxime zu eigen gemacht, der 1919 geschrieben hatte: »Die Satire muss übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird.«

Gonzo-Journalismus bei Weltenschummler

Zum Schluss noch eine  Bemerkung in eigener Sache. Wir machen hier bei Weltenschummler ganz explizit Gonzo-Journalismus, weil wir ebenso wie Hunter S. Thompson überzeugt davon sind, dass wahre Objektivität ein Mythos ist und weil es einfach viel mehr Spaß macht, mit einer ordentlichen Portion Verve zu schreiben. Außerdem macht es sonst einfach keiner, oder zumindest nicht so, wie wir uns Gonzo-Journalismus vorstellen und wie er gedacht ist. Alles über unsere Auffassung von Gonzo-Journalismus und wie wir diesen gestalten wollen findet ihr in unserem Gonzo-Manifest.

Stay gonzo!
Marvin Mügge und Daniel S.