Die Zeitungskrise aus der Sicht eines Bloggers. Oder: Let’s put the “RISE” in “ZeitungskRISE!”

zeitungskrise

Bild: © Aggie 11/Shutterstock.com

Alternative und selbstbestimmte Publikationsformen gewinnen immer mehr an Bedeutung, während die Zeitungen sich in der schlimmsten Krise ihrer Geschichte befinden. Beide Seiten schimpfen übereinander - so richtig geholfen ist damit aber niemandem. Statt gegeneinander zu arbeiten, sollten wir versuchen, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Auf dem Spiel steht nichts anderes als die Zukunft des Journalismus.

Dezentralisierung von Informationskompetenz

Sogar der verbohrteste Traditionshüter kann nicht leugnen, dass sich das Berufsbild des Journalisten im Wandel befindet. Die Zugangsmöglichkeiten zu diesem wundervollen Beruf sind vielfältiger geworden. Was wir mit der Zeitungskrise gerade erleben, ist nichts anderes als eine Folge der Dezentralisierung von Informationskompetenz: Vorsichtig geschätzt gibt es momentan über 300 Millionen Blogs weltweit. Tumblr alleine hostet mehr als 215 Millionen Blogs, wordpress.com verzeichnet jeden Monat 42,6 Millionen neue Posts. Mehr als 400 Millionen User lesen dort monatlich 18 Milliarden (sic!) Blog-Seiten - wohlgemerkt nur WordPress-Seiten. Nehmen wir mal noch Googles Blogger-Plattform, Drupal undwasweißichnoch dazu, ist die Zeitungskrise einfach nur eine logische Konsequenz. Zeit ist bekanntlich ein begrenzt verfügbares Gut. Diese Zeit, die Menschen nutzen, um Blogs zu lesen und Inhalte zu erstellen, sie ist verlorene Zeitungszeit. Der Informationsfluss hat sich in jeder Hinsicht an den Zeitungen vorbeidemokratisiert und mit ihm auch die Meinungs- und Deutungshoheit, die viele Verlage noch aus glorreichen Zeiten für sich beanspruchen.

Das Alte muss dem Neuen weichen

Liebe Printjournalisten, ihr müsst jetzt ganz stark sein. Auch wenn ich mich damit sehr unbeliebt mache, aber irgendjemand muss es einfach mal sagen: Gedruckte Nachrichten sind ein obsolet gewordenes Rudiment des 20. Jahrhunderts, das über kurz oder lang dem Schicksal eines entzündeten Blinddarms anheim fallen muss. Es wird weh tun und es wird zu einem Schnitt kommen. Das ist so traurig wie unvermeidbar.

Ich komme aus einer Generation, die ihr Abitur noch ohne Internet gemacht hat und Zeitung las, um sich über das aktuelle Weltgeschehen zu informieren. (Ja, so war das 1995. Crazy.) Heute kaufe ich mir Zeitungen - wenn überhaupt - nur noch aus beruflichem Interesse. Nachrichten und Informationen beziehe ich aus dem Netz. Das wird bei den folgenden Generationen sicher nicht besser (im Sinne der Verlagswelt).

Ich lehne mich jetzt sogar ganz weit aus dem Fenster und behaupte: In spätestens 10 bis 15 Jahren werden gedruckte Tageszeitungen in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Schon jetzt steht die Branche vor einem Redundanz-Problem: gefühlte 80 bis 90 Prozent aller Meldungen habe ich schon am Vortag im Netz gelesen. Manch einer mag argumentieren: “Ja, aber was ist mit Qualitätsjournalismus? Mit ausführlichen Kommentaren? Mit Reportagen, Hintergrundberichten und Themenbeilagen? Und vergiss nicht das Streiflicht!” Natürlich. All diese Dinge sind wunderbar. Das Problem ist, ich muss mir keine Zeitung kaufen, um diese wunderbaren Dinge zu haben. Und es kommt noch schlimmer: Zeitungen sind nicht nur ewig gestrig, sie sind das personifizierte “Früher war alles besser.” Sie sind der altgewordene Verwandte, der auf Familienfeiern olle Kamellen erzählt und dem aus Mitleid keiner sagen will, dass die Gegenwart viel spannender ist.

Ich, der Jogginghosen-Journalist

Als Blogger bekomme ich immer wieder - implizit und auch explizit - den Vorwurf zu hören, ich sei kein Journalist. Im hart umkämpften Ökosystem der Schreiberlinge spielt sich manch unbelehrbarer Printjournalist beim bösen B-Wort noch immer wie ein entthronter Silberrücken auf und trommelt wild auf seiner priviligierten Brust herum. Und während die Online-Kollegen noch halbwegs scherzhaft als Hoodie-Journalisten bezeichnet werden, sind Blogger die gammeligen Verwandten in Jogginghosen. Das kann von Branchenkenner Peter Turi noch so augenzwinkernd gemeint sein, es verdeutlicht nichtsdestotrotz die Geringschätzigkeit und den Argwohn, die der Blogosphäre noch immer entgegengebracht wird. Das liegt - zugegeben - zum einen daran, dass es unter uns Bloggern sehr viele schwarze Schafe gibt, denen Worte wie “Sorgfaltspflicht” oder “Quellencheck” höchstens als netter Scrabble-Move bekannt sind; zum anderen zeigen die Vorbehalte gegenüber der bloggenden Zunft aber auch ein Konkurrenzverhalten, das nicht nur vollkommen fehl am Platz ist, sondern sogar höchst kontraproduktiv. Es ist ein Verschenken von journalistischem Potential.

Und die Kollegen mit den Hoodies?

Die Onliner der Verlagshäuser, sie nehmen in dieser Gemengelage eine ganz besondere Rolle ein. Sie stehen im Schatten großer, traditionsreicher Namen, und weil es an sinnvollen, nutzerfreundlichen Monetarisierungskonzepten fehlt, ist es ihnen bislang nicht geglückt, aus diesem Schatten herauszutreten. Stattdessen suchen sie Sündenböcke, und derer gibt es einige: Kostenloskultur, Ad Blocker und das pöse, pöse Google sind nur einige davon. Mit dem Lobbyprojekt “Leistungsschutzrecht” haben die Verlage nur eines bewiesen, nämlich dass sie das Wesen des Internets nicht verstanden haben. Das ist besonders tragisch, weil sich dem Journalismus im Allgemeinen gerade die größte Chance seiner Geschichte bietet. Nie waren Informationen freier und globaler zugänglich, nie waren die technischen Möglichkeiten besser, nie konnten Nachrichten schneller und direkter verteilt werden. Aber anstatt auf Vernetzung zu setzen, wird gemauert.

Dazu passt auch die sonderbar elitäre Haltung, wenn es z. B. darum geht, Quellen zu verlinken. Unter Bloggern gehört es zum guten Ton, denjenigen zu crediten, über den man auf eine Story aufmerksam geworden ist. Ein simples “via XYZ”, ein Textlink hier, ein Hat Tip dort würde keinem weh tun, aber dies scheint mit dem Selbstverständnis der Verlage nicht vereinbar. Die Zeitungen finden über ihre Online-Ableger zwar auch im Netz statt, möchten aber um Himmels willen nicht zur vermeintlich unseriösen, bejogginghosten Bagage gehören. Und so sind Blogs längst Teil der Popkultur geworden, während die Verlage sich mit Trollen, hahnebüchenden Verschwörungstheorien (Pegida und die “Lügenpresse”) und verstaubtem Image herumärgern müssen.

Was wir voneinander lernen könnten

So weit also zum Status Quo. Viel wichtiger als eine weitere Bestandsaufnahme wären jedoch konkrete Lösungsansätze. Was können wir tun, um die Zukunft des Journalismus zu gestalten?

1. Wir müssen falsche Eitelkeiten ablegen.

Und mit “wir” meine ich alle, die einen journalistischen Anspruch an ihre Arbeit haben, unabhängig vom Medium. Ihr, liebe Verlage, müsst Euren Platz in der digitalen Welt finden, statt Sündenböcke zu suchen. Ihr müsst akzeptieren, dass referenzieren, verweisen, remixen und zitieren zum Wesen des Internets gehören. Ich kann bis heute nicht nachvollziehen, wie vernünftig denkende Menschen auf die Idee kamen, dass ein Leistungsschutzrecht für Presseverlage für irgendjemanden hilfreich sein könnte. Ihr müsst das Risiko eingehen, dass Eure Inhalte sich verbreiten. Denn mal ehrlich, dafür macht ihr das Ganze doch, oder? Außerdem müsst ihr aufhören, die Blogosphäre als eine Art Trendwühltisch zu missbrauchen, der es nicht wert ist, erwähnt zu werden. VERLINKT EURE QUELLEN! Keiner zeigt mit dem Finger auf euch, wenn ihr einen kleinen Blog zitiert und verlinkt. Reichweite ist nicht alles. Expertise zählt. Und genau diese findet sich nun mal in den unzähligen Nischenblogs.

Und wir Blogger? Wir müssen endlich anfangen, seriös zu arbeiten, wenn wir uns weiterentwickeln wollen. Blogger = Journalisten? Auf jeden Fall, aber eben nur, wenn wir nicht blind jeden Scheiß rebloggen, der sich dann später als Prank oder Clickbait herausstellt. Klar, so ein Blogger-Dasein verführt natürlich dazu, sich wie die journalistische Bohème zu fühlen, aber wenn wir das wirklich sein möchten, müssen wir uns an Dinge wie Sorgfaltspflicht und Quellencheck gewöhnen. Ich für meinen Teil möchte zumindest keinen Scheiß in die Welt setzen.

2. Wir brauchen einen Wissenstransfer in beide Richtungen.

Ich habe mich schon oft gefragt, warum die Verlage nicht schon längst begonnen haben, eigene Vertical Networks aufzubauen. Stattdessen überlassen sie dies seit Jahren der Werbeindustrie und deren Netzwerken. Warum?

Ich vermute, dass sie das selbst nicht so recht wissen. Das wurde tragischerweise einfach verpennt. Dabei gäbe es kaum eine klassischere Win-Win-Situation: Durch gezielte, gegenseitige Content-Syndication könnten beide Seiten ihre Inhalte interessanter gestalten, neue Leser dazugewinnen und Akzeptanz sowie Relevanz verbessern. Beide Seiten könnten ohne großen Aufwand unbezahlbares Expertenwissen akquirieren, Kompetenz einfach miteinander teilen. Ein solches “Authority Sharing” würde viele Probleme lösen, vor denen der Journalismus heute steht. Zeitungen haben die Reichweite in der Breite, Blogs in der Tiefe. Ihr habt das berufliche Know How, wir haben unser Nischenwissen. Lasst uns einfach gegenseitig mal Lehrer, mal Schüler sein. Zusammen wären wir unschlagbar.

3. Wir brauchen funktionierende und nutzerfreundliche Monetarisierungskonzepte.

Dass User nicht bereit sind, für Inhalte zu bezahlen, ist ein Mythos. Projekte wie die Krautreporter oder die Crowdfunding-Plattform von Correct!v zeigen, dass durchaus Zahlungsbereitschaft für journalistische Inhalte vorhanden ist. Trotzdem ist und bleibt dies wohl die größte Baustelle. Das liegt an zwei Dingen:

Zum einen gibt es eine unrealistische Erwartungshaltung der Verlage. Um es mit aller Deutlichkeit zu sagen: Die fetten Jahre sind vorbei. Das mussten auch schon Musik- und Filmindustrie erkennen und haben alternative Geschäftsmodelle geschaffen. Ein SZ-Abo kostet aktuell sagenhafte 54,40 € (außerhalb Bayerns). Die digitale Ausgabe schlägt immerhin noch mit 29,99 € zu Buche. Ich schätze die SZ sehr, aber bei aller Liebe: Das ist einfach viel zu teuer. Diese Preisgestaltung legt ein Szenario aus einer Zeit zugrunde, in der das Angebot an journalistischen Inhalten noch ein anderes, kleineres war. Um das mal in Bezug zu setzen: Das entspricht dem Preis von z. B. drei Spotify-Premium-Abos oder ca. vier Netflix-Abos. Die klaffende Lücke in punkto Preis-Leistungs-Verhältnis für mich als Verbraucher ist frappierend. Solche Preise sind auf Dauer nicht mehr haltbar (das trifft übrigens auch auf alle anderen Tageszeitungen zu).

Zum anderen stellt sich die Frage, warum immer noch zwischen Print und Online getrennt wird. Wenn ich für einen Tag Verlags-Boss spielen dürfte, ich würde zwei Dinge tun: 1. Redaktionen zusammenlegen und 2. ein One-for-all-Abo zum radikalen Preis von 9,99 € einführen, mit dem jeder Abonnent (eine deutlich schlankere) Printausgabe erhält, dafür aber auch Zugang zur (nicht schlanker gewordenen) Digital-Ausgabe, die neben dem gewohnten (weiterhin kostenlosen) Online-Angebot das Kernprodukt des Hauses darstellt. Denn das ist das eigentliche Problem: Der Fokus der Verlage liegt immer noch auf der altersschwachen Cash-Cow Offline, gleichzeitig wundert man sich aber, warum Online nicht richtig funktioniert. Die Lösung ist ganz einfach: Der Fokus muss online gesetzt werden, und es muss eine Preisgestaltung her, die mit vergleichbaren Angeboten anderer Branchen mithalten kann. Angesichts der Aussichten ist das die einzige Option.

Besonders interessant wird dieses Modell übrigens im Zusammenspiel mit dem oben skizzierten Vertical Network: Inhalte zu produzieren kostet Geld, und mancher Skeptiker wird einwenden, dass Firmen wie Spotify keine eigenen Inhalte produzieren und deshalb so günstig sein können. Ich könnte jetzt entgegnen, dass das bei Netflix z. B. ganz anders aussieht und der ehemalige DVD-Verleih dabei ist, zum umtriebigsten Serienproduzenten der Welt aufzusteigen, möchte aber noch auf etwas anderes hinaus: Gerade weil die Informationsstrukturen sich derart geändert haben, muss der Journalismus der Zukunft nicht nur Inhalte erstellen, sondern auch kuratieren. Das ist natürlich weniger Rock ‘n’ Roll, aber nicht weniger wichtig und einer der entscheidenden Mehrwerte von vielen Blogs: Sie machen es mir leichter, meine Interessen zu verfolgen und sie geben mir einen Zeitgewinn, indem sie unzählige Quellen für mich filtern und vorab auswählen. Indem die Verlage gezielt solche Blogger in ihre Content-Strategie einbinden, sparen sie Ressourcen und bieten gleichzeitig einen Mehrwert. Im Gegenzug werden die Blogger angemessen an der Monetarisierung beteiligt.

So what / tl;dr?

Die sogenannte Zeitungskrise ist vor allem ein hausgemachtes Problem. Die “Krise” entsteht in diesem Fall einzig und allein aus mangelnder Anpassungsbereitschaft auf einen längst erfolgten und unumkehrbaren Strukturwandel, der eine Dezentralisierung von Informationskompetenz zur Folge hatte. Die Lösung liegt darin, diesen Wandel anzunehmen und von ihm zu lernen, indem Presse und Blogger sich besser vernetzen und nutzerfreundliche Monetarisierungskonzepte entwickeln.

In diesem Sinne: Let’s put the “RISE” in “ZeitungskRISE!”

Marvin Mügge

Marvin Mügge

Weltraumpräsident at Weltenschummler
Gonzo-Journalist. Hat als Einziger das Ende von Lost verstanden und eine hohe Trash-Toleranzgrenze. Serienaddict, Kinogänger, Medienkritiker, GIF-Sammler und gescheiterter Physiker. Gründer von Weltenschummler.
Marvin Mügge
- 2 Tagen ago
Marvin Mügge