In 30 Tagen durch den Boulevard

In 30 Tagen durch den Boulevard - Tag 1

Sie ist das Lieblings-Feindbild jedes Intellektuellen: die Boulevardpresse. Generationen von geistigen Gutmenschen bissen sich an BILD & Co. bereits die Zähne aus - vergeblich. Deutschlands Yellow Press begeistert weiterhin die Massen. Doch was macht die Faszination des gemeinen Wutbürgers für parolenhafte Schlagzeilen-Polemik aus? Die Sehnsucht nach reißerischen Belanglosigkeiten? Der immanente Wunsch nach zweifelhafter Polemik? Schadenfreude? Oder gar Neid?

Ich gehe jede Wette ein, dass die meisten, die über den Boulevard schimpfen, noch nie eine BILD in die Hand genommen, geschweige denn “gelesen” haben. Doch man kann ein Problem nur in vollem Umfang erfassen, wenn man den Arm bis zum Ellenbogen in die Scheiße steckt. Daher wage ich, was noch nie ein (vermeintlich) kritisch denkender Mensch zuvor gewagt hat: In einem hochinvestigativen, riskanten und möglicherweise sogar vollkommen absurden Selbstversuch werde ich 30 Tage lang meine Informationen über das tagespolitische Geschehen nur noch aus der Boulevardpresse beziehen. Keine Süddeutsche Zeitung, kein Spiegel Online, noch nicht einmal die Welt. Wie wird sich das auf mich auswirken? Geistige Verrohung? Latenter Hang zum unreflektierten Meckern? Oder bild ich mir gar eine Meinung, die ich gar nicht haben will? All das werde ich in den nächsten Wochen ergründen und in einem beispiellos bescheuerten Experiment für die Nachwelt festhalten.

Tag 1: 06. Februar 2014

Auf dem Weg zur Arbeit mache ich Halt beim Presseerzeugnishändler meines Vertrauens. Mit festem Schritt gehe ich auf den Zeitungsständer zu - nur um dann mehrere Minuten unschuldig pfeifend herumzuschlendern. Ich schäme mich. Was werden die Leute denken? Ich hätte einen Hut mitnehmen sollen. Und eine Sonnenbrille. Mir etwas Mut anzutrinken wäre wahrscheinlich auch von Vorteil gewesen. Ich mache mir klar, dass es für eine gute Sache ist. Ich will die Wahrheit schonungslos aufdecken und für meine Leser erfahrbar machen. Beherzt greife ich mir gleich die volle Schund-Palette: BILD, B. Z., Berliner Kurier. Als ich an der Kasse stehe, fällt mir auf, dass die sonst so unterkühlte Zeitungsverkäuferin mich wissend anlächelt. In einem Anflug von Panik vermute ich, dass sie mein Spiel durchschaut hat. “Ich wurde enttarnt”, schießt es mir durch den Kopf. Ich probiere es mit einem unverfänglichen “Morgen…”. Ha! Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Ich ernte ein beiläufiges “Zwei Euro zehn, der Herr.” Zwei Euro und zehn Cent? Ich wittere eine Falle. Wahrscheinlich hält sie mich aufgrund meiner Lektüreauswahl für kriminell und in dem Moment, wo ich den Laden verlasse, schnappen die Handschellen. “Ähm, nein, ich möchte alle drei.” “Ja. Drei Mal 70 Cent macht zwei Euro zehn.” Verblüffend. Mit einem Schlag erfasse ich plötzlich den Reiz des Billigen. Nicht ohne einen Anflug von Erregung bezahle ich und verlasse den Zeitungsladen.

Wieder zu Hause breite ich die Zeitungen auf meinem Tisch aus (tagsüber habe ich sie aus Angst von Kollegen entdeckt zu werden im Kofferraum meines Autos aufbewahrt). Sogleich entdecke ich den ersten Fehler: Der Berliner Kurier verspricht für heute 6° Celsius, obwohl meine Wetter-App etwas Gegenteiliges (9° Celsius) behauptet hatte. So fängt es also an. Erst das Wetter, dann die Seele. Aber mich werdet ihr nicht kriegen. Mich nicht.

Mein Blick wandert weiter und checkt die Titelstorys. Der Aufmacher des Berliner Kuriers lautet: “Der Döner-Zorro von Berlin. Mustafa (61) verjagt Pistolen-Mann mit seinem Kebab-Schwert.” Der freundliche Herr auf dem Bild posiert dabei aber offensichtlich in einem Kiosk - und nicht wie erwartet vor einem rotierenden Fleischspieß. Außerdem trägt er weder Hut noch Maske. Vom Umhang wollen wir gar nicht erst reden. Warum also “Zorro”? Ich blättere weiter. Nach dem obligatorischen Rumgehacke auf dem Feind (“Menschen wie Alice Schwarzer…”) bleibe ich bei der durchaus amüsanten Geschichte um einen Nuttenpreller-Ring hängen. Verzeihung, ich meine natürlich: mehrere Betrüger, die eine nicht näher bestimmte Anzahl von Prostituierten um ihr hart verdientes Geld gebracht haben. Während ich diese Worte schreibe bin ich schockiert über meine Wortwahl. Ist es möglich, dass die geistige Verrohung bereits am ersten Tag einsetzt? Ich beruhige mich damit, dass ich meine zweifelhafte Formulierung noch ohne fremde Hilfe bemerkt habe.

Dennoch - der erste Warnschuss ließ nicht lange auf sich warten. Mit nicht zu leugnender Unsicherheit lasse ich meine Fingerspitzen über die Titelseiten von B. Z. und BILD gleiten. Ein Schauer durchfährt mich. Gehe ich zu weit? Bringe ich mich selbst in Gefahr? Ich weiß, dass kein Weg an der Wahrheit vorbei führt. Aber für heute muss sie noch warten.

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